Der Demokratiezug: Ein mobiles Angebot für den demokratischen Diskurs

„Haben Sie einen Moment Zeit? Was bewegt Sie gerade?“ – Dies ist die Einladung, die Diskursbegleiter*innen des Demokratiezugs den Fahrgästen aussprechen, wenn sie in die Straßenbahnlinie 1 in Kassel einsteigen. Es ist der Beginn einer Reise, die nicht nur dazu einlädt zuzuhören, sondern auch sich auf unterschiedliche Meinungen und Perspektiven einzulassen – selbst wenn diese kontrovers sind.
In den letzten sechs Monaten haben Diskursbegleiter*innen bei 35 Fahrten über 800 Gespräche geführt – und das in einem offenen, respektvollen und wertschätzenden Rahmen. Ein im Design der Initiative gestalteter Zug der Linie 1 wird hierfür zum mobilen Diskursraum. Die Gespräche sind vielfältig: Es geht um politische Themen, persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Herausforderungen. Gerade in einer Zeit, in der gesellschaftliche Gräben oft weiter auseinanderzugehen scheinen, zeigt der Demokratiezug: Wir können miteinander reden, einander zuhören, Fragen stellen und Meinungsverschiedenheiten aushalten. Der demokratische Dialog wird hier nicht nur gepflegt, sondern auch aktiv gefördert.
Am 3. Oktober 2024 feierte der Demokratiezug seine Premiere. Die Initiative Platz nehmen für Demokratie hat dieses Projekt in Kooperation mit KVV/KVG und der Stadt Kassel sowie Oberbürgermeister Sven Schoeller als Schirmherrn ins Leben gerufen. Seither verkehrt der Zug wöchentlich auf der Tramlinie 1 von Wilhelmshöhe (Park) nach Vellmar-Nord, immer dienstags – ein stetiger Austausch, der neue Perspektiven eröffnet. 


Diskursbegleiter*innen schaffen Raum für Austausch und Kontroversen


Jede Fahrt ist ein kleines Abenteuer, ein Aufeinandertreffen von Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten und Meinungen. Die Diskursbegleiter*innen machen die Straßenbahn zu einem lebendigen Raum für Dialog. Ihre Mission? Einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen austauschen, einander zuhören und sich ge-genseitig respektieren können. Mit Westen im Design der Initiative gekennzeichnet laden die Diskursbegleiter*innen die Fahrgäste ein, sich an Gesprächen zu beteiligen. Ein Moment, der die gewohnte Routine unterbricht und Raum für Austausch und Diskussion schafft.
In sechs eintägigen Workshops wurden in den letzten sechs Monaten 74 Interessierte zu Diskursbegleiter*innen ausgebildet. Die Workshops vermitteln sowohl theoretische als auch praktische Grundlagen: Sie behandeln die zunehmende gesellschaftliche Po-larisierung, kommunikationstheoretische Modelle für demokratischen Austausch so-wie Techniken zur Moderation von Gesprächen über Differenzen hinweg. 
Basierend auf den Erfahrungen der Diskursbegleiter*innen im Demokratiezug wird das Konzept kontinuierlich weiterentwickelt. Nach jeder Fahrt teilen die Diskursbegleiter*innen ihre Eindrücke der zurückliegenden Fahrt, reflektieren und diskutieren gemeinsam herausfordernde und gelungene Gespräche, um voneinander zu lernen. „Der Demokratiezug ist ein Raum, in dem jeder und jede eingeladen ist, sich zu äußern und gehört zu werden. Doch wir gehen noch einen Schritt weiter – wir schaffen einen Raum, in dem auch die Unterschiede ausgesprochen und respektiert werden,“ erklärt eine der ausgebildeten Diskursbegleiterinnen. „Wir ermutigen die Teilnehmenden sich ihre Meinung zu vertreten und die dahinterliegenden Erfahrungen und Perspektiven ans Licht zu bringen, um einander zu verstehen.“ 


Von Bad Wilhelmshöhe durch Innenstadt und Nordstadt bis nach Vellmar: Eine Fahrt quer durch die Kasseler Gesellschaft


Es sind die Geschichten, die den Demokratiezug besonders machen. Zwei Frauen, die in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen ar-beiten, steigen ein und erzählen von ihrem Alltag. Sie sagen, sie sind an den Rand ge-drängt, die Werkstatt ist außerhalb der Stadt, wie ihr Alltag aussieht können sich die wenigsten vorstellen. Was sich verändern müsste? – Vieles! Sie wollen eine gerechte Entlohnung für ihre Arbeit und über diese mitbestimmen. Die Gespräche, die sie mit anderen Fahrgästen führen, eröffnen neue Perspektiven und regen zu Reflexion an.
Während die Fahrt durch Kassels Stadtteile führt, füllt sich der Wagen: Pendler*innen, Schüler*innen, Eltern mit Kinderwagen, Arbeitnehmer*innen in der Mittagspause oder Rentner*innen auf dem Weg zum Arzttermin – der Demokratiezug ist ein Spiegelbild der Vielfalt der Stadt. Ein junger Mann erzählt stolz, wie er in einem Jahr in Deutsch-land die Sprache gelernt und zwei Jobs gefunden hat, er lebt sehr gerne in Kassel. Zwei Schülerinnen teilen ihre Eindrücke von der Bundestagswahl und diskutieren, wie TikTok den Wahlkampf beeinflusst hat. In der Straßenbahn wird jede Fahrt zu einem Ort, an dem persönliche Geschichten, gesellschaftliche und politische Entwicklungen ausgetauscht und diskutiert werden. 
Es kommt auch vor, dass Fahrgäste länger mitfahren, als ursprünglich geplant, wie zum Beispiel bei Fahrten mit Gästen aus der Kasseler Stadtgesellschaft. Bei Fahrten mit  Ute Clement (Präsidentin der Universität Kassel), Andreas Hoffmann (Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH), Ute Giebhardt und Sylke Ernst Gleichstellungsbeauftrage von Stadt und Uni Kassel hatten die Fahrgäste die Möglichkeit niederschwellig ins Gespräch zu kommen und Themen, die sie in ihrem Alltag beschäftigen zu diskutieren. 

Der Demokratiezug – Eine Reise, die weite Kreise zieht


Durch gezielte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist der Demokratiezug nicht nur in Kassel bekannt geworden, sondern hat auch darüber hinaus Interesse geweckt. Im vergangenen halben Jahr wurden fünf Fahrten von Journalist*innen begleitet, die das Projekt für Hörfunk, Fernsehen und Printmedien dokumentierten. In Interviews be-richten Fahrgäste und Diskursbegleiter*innen von ihren positiven Erfahrungen und der Bedeutung des Dialogs in Zeiten sozialer Medien und politischer Polarisierung. „In der heutigen Zeit lebt jeder ein Stück weit in seiner eigenen Blase. Der Demokratiezug bietet eine seltene Gelegenheit, diese Blase zu verlassen und sich mit Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten auseinanderzusetzen,“ sagt ein Fahrgast. 
Dank der Medienberichterstattung ist das Projekt mittlerweile weit über Kassel hin-aus bekannt. Besondere Aufmerksamkeit fand der Demokratiezug in den hessenweit ausgestrahlten Fernsehbeiträgen, die das Konzept auch über die Region hinaus ver-breiteten. Dies führte zu einem großen Interesse von neuen Netzwerkpartner*innen, darunter der Werra-Meißner-Kreis und der Schwalm-Eder-Kreis, sowie der Wissens-region Düsseldorf e.V., die das Konzept übernehmen möchten.
Die Medienpräsenz hat nicht nur das Interesse an den Gesprächen im Zug gesteigert, sondern auch Fahrgäste aus anderen Städten wie Frankfurt angelockt, die extra anreisen, um Teil dieser besonderen Erfahrung zu sein. Der Instagram-Kanal des Projekts wird regelmäßig mit Videos und Bildern aus den Fahrten befüllt, in denen Fahrgäste ihre persönlichen Eindrücke schildern. Diese Beiträge bieten einen Einblick in die Themen, die in den Gesprächen angesprochen werden: von Alltagssorgen wie Pflegeberufen und Altersarmut über die politischen Herausforderungen der Gesell-schaft bis hin zu Erfahrungen mit Rassismus und dem Leben mit einer Schwerbehinderung.


Der Wert von Dialog und Demokratie: Gemeinsam Verantwortung übernehmen


Der Demokratiezug ist mehr als ein Raum für harmonische Gespräche – er ist auch ein Ort, an dem kontroverse Themen angesprochen und ausgetragen werden. Hier wird nicht nur nach Gemeinsamkeiten gesucht, sondern auch nach Wegen, Unterschiede zu verstehen und in einen konstruktiven Dialog zu treten. Hier erleben die Fahrgäste, dass Demokratie nicht nur eine abstrakte Idee ist, sondern etwas, das durch respekt-vollen Austausch und aktive Teilnahme lebendig wird.
Die Gespräche im Demokratiezug wirken nach. Sie regen dazu an, im Alltag offen auf andere Menschen zuzugehen, zuzuhören und sich mit unterschiedlichen Perspektiven auseinanderzusetzen. Das Projekt zeigt: Dialog ist der Schlüssel, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken. 
 

Zurück

Aktionen

01. Juli 2025 - 13:42
- in der Linie 1 ab Haltestelle Wilhelmshöhe (Park), Kassel

Platz nehmen in der Bahn

Der Demokratiezug fährt regelmäßig dienstags ab 13:42 Uhr an der Haltestelle Wilhelmshöhe… ...mehr

08. Juli 2025 - 13:42
- in der Linie 1 ab Haltestelle Wilhelmshöhe (Park), Kassel

Platz nehmen in der Bahn

Der Demokratiezug fährt regelmäßig dienstags ab 13:42 Uhr an der Haltestelle Wilhelmshöhe… ...mehr

Alle Aktionen